Von Sabine Gottfried, Suhl, Wochenspiegel 20.06.2016
Selbsthilfe, das heißt ja nicht Jammern über Krankheiten
56 Gruppen haben sich im neuen Sozialen Zentrum eingelebt, auch „Positiv Verrückte“ und die „Flotte Runde“
Selbsthilfe – das klingt immer ein bisschen traurig. Als ob sich leidende Menschen selbst helfen müssten und über ihre Krankheiten nur mal gemeinsam jammern können. Da ist ein bisschen was Wahres dran. Aber traurig ist es nicht. Frauen, Männer und auch Jugendliche finden sich in den Gruppen zusammen, um neben der ärztlichen Behandlung sich gegenseitig Rat, Halt, Mut, Ertüchtigung, Geselligkeit zu geben und durch die GruppenleiterInnen wertvolle Fachinformationen zu bekommen.
Zentraler Treffpunkt für die derzeit knapp 60 Selbsthilfe- und Initiativgruppen in Suhl ist seit einem halben Jahr das Soziale Zentrum im Obergeschoss des CCS-Atriums und damit – nomen es omen – im Zentrum der Stadt. Im 26. Jahr nach Bildung einer Selbsthilfeberatungsstelle, zuerst BESEG, und nach allerhand Umzügen – vom Dachgeschoss im Weberblock, über den ehemaligen Fajas-Kindergarten, die Rimbachstraße und zuletzt für zehn Jahre die Aue-Kindertagesstätte „Tausendfüßler“ – haben sich die Selbsthilfegruppen nun wohl dauerhaft neu eingerichtet. In der Kita nämlich, und das war die gute Seite des Auszuges, wurde der Platz gebraucht, denn es werden inzwischen wieder mehr Kinder geboren.
„Unsere neuen Räume haben etwas Erfrischendes, Entspannendes, Gemütliches. Es fühlt sich heimisch an hier“, freut sich Julia Schmatloch, die Kontaktstellenleiterin und Chefin des Sozial- und Gleichstellungsbüros der Stadtverwaltung.
Wo vier helle Gruppenräume, ein großer Bewegungsraum und die kleine Teeküche entstanden, residierte zuvor in einem weiten Ausstellungsraum das Autobahnmuseum. Trennwände und komplett erneuerte Technik sowie Step by Step weitere neue Einrichtungsgegenstände ermöglichen ein angenehmes Arbeiten und auch etwas Intimsphäre bei den Gruppentreffen und Übungen. Alles ist barrierefrei, versteht sich.
Schaut man sich allein den ellenlangen Juni-Terminplan hier an, wird sich die Zahl von zuletzt knapp 100 Treffen pro Monat wohl noch erhöhen, werden die ehrenamtlichen GruppenleiterInnen, Selbstbetroffene oder deren Angehörige, noch mehr gefordert und ihre Schützlinge gefördert.
Das ganze Abc umfasst das Themenspektrum der Selbsthilfearbeit: von A wie Allergie-, Neurodermitis- und Asthmahilfe, über Blinde und Sehbehinderte, Borderline, Depression, Eltern psychisch erkrankter Kinder, Grüne Damen und Herren (Besuchsdienste im Klinikum), Multiple Sklerose, Parkinson, Verwaiste Eltern, XXL (zur Gewichtsreduzierung) bis Z wie Zwangserkrankungen, um nur einige aufzuzählen.
Julia Schmatloch, die 35-jährige, umtriebige „Hausherrin“ des Sozialen Zentrums, von Hause aus Diplom-Sozialpädagogin und -Sozialarbeiterin, nennt als größte Gruppen jene für Osteoporose/Arthrose, die Rheumaliga und die gehörlosen Senioren. Sie haben bis zu 200 Mitglieder, „teilweise kommen die Menschen schon von überall her“, staunt sie selbst immer wieder.
Bei den zahlenmäßig kleinsten liegt dies im Charakter ihrer Leiden begründet. Maximal eine Handvoll kommt zur SHG Kreuzbund für Suchtkranke und deren Angehörige. Auch unter der Borderline-Störung oder Depressionen Leidende, darunter oft jüngere Menschen, möchten sinnvollerweise unter sich im vertrauten Kreis bleiben ohne dauernde Neuzugänge. So wird überlegt, eine zweite Gruppe zu gründen.
Flotte Runde und positiv Verrückte
Dass einige Selbsthilfegruppen sogar schon länger als 26 Jahre zusammenarbeiten, zeigt, wie dringend nötig und willkommen die Bildung der Selbsthilfeberatung frühzeitig nach der Wende in Suhl war. Sie gelang auch mit Hilfe der Erfahrungen aus der Partnerstadt Würzburg. Die langjährigsten, beständigsten sind die Multiple-Sklerose-Gruppe, die Frauenselbsthilfe nach Krebs und die ILCO, die von Stoma und Darmkrebs betroffene Menschen auffängt.
Es sind weitere Gruppengründungen geplant und Interessenten dafür können sich melden. Eine Al-Anon-Familiengruppe wäre offen für Angehörige und Freunde von Alkoholikern. Vertraut machen können sie sich damit, das eigene vernachlässigte Leben in die Hand zu nehmen, statt in das des Alkoholikers hinein zu regieren, ohne das Trinken stoppen zu können.
Eine Diabetes-Selbsthilfegruppe will mehr Wissen vermitteln zu richtiger Ernährung und passender Bewegung. Für eine Gruppe zu Hüftdysplasie wäre sogar schon eine Ansprechpartnerin bereit, sich mit Betroffenen über das bessere Meistern des Alltags mit dem typischen, angeborenen Hüfthinken auszutauschen.
Bei solch schweren gesundheitlichen Schicksalen wundert sich der Außenstehende über Gruppen wie „Flotte Runde“ oder die „Positiv Verrückten“. Letztere, erklärt Julia Schmatloch, sind einige psychisch Erkrankte aus der Suhler Tagespflege gegenüber. Bestimmt eine coole Truppe mit Flausen im Kopf und Humor. Die „Flotte Runde“ indes vereint vorwiegend ältere Damen mit großem Bewegungsbedürfnis und Rhythmus im Blut. „Das ist wie Sport. Sie tanzen, aber wie!“, lacht Julia. Oft seien auch die Furcht vor der Einsamkeit und die Sehnsucht nach gemeinsamem Spaß die Beweggründe, sich in der Gruppe zu treffen.
Auch Selbsthilfe? Freilich. Nicht immer stehe ein klassisches Krankheitsbild im Hintergrund. Hier diene die gemeinsame Action einfach der psychischen Gesundheit. „Selbsthilfe ist ja nicht Jammern über die Krankheit. Es gibt tausend andere Sachen, zu denen man sich austauschen kann“, weiß die Fachfrau Julia. „Das muss man einfach mal erlebt haben.“
Pressebeitrag: „Wochenspiegel“, 20.06.2016, Text + Foto: Sabine Gottfried